Interview mit dem Zinkenisten Bruce Dickey


Bild Bruce DickeyHerr Dickey, warum haben Sie angefangen Musik zu machen, wie hat es Sie in die Alte Musik verschlagen?
Nun, wie beinahe jeder ordentliche amerikanische Junge habe ich sowohl in der Grundschule, als auch in der Highschool in einer Band gespielt – Trompete –, und als ich dann auf’s College ging, spielte ich in einer Marschkapelle, einem symphonischen Blasorchester, einem Bläserensemble... Auch wenn Musik damals nicht mein Hauptfach war, spielte sie also doch eine große Rolle in meinem Leben und ich nahm meine musikalischen Aktivitäten sehr ernst. Irgendwann ging dann ein Freund von mir, mit dem ich schon während der Highschool-Zeit zusammen Trompetenduette gespielt hatte, an die Indiana-University, um Trompete zu studieren. Er fand dort einen ausgezeichneten Lehrer und überzeugte mich, dass ich das doch auch probieren sollte. Und ich fand die Idee tatsächlich so reizvoll, dass ich ebenfalls die Universität wechselte und beschloss, Trompeter zu werden. Ich machte dort dann auch mein Undergraduate-Diplom, aber in der Zwischenzeit hatte mich jemand mit der Blockflöte und der Alten Musik bekannt gemacht, ich beteiligte mich auch in einem kleinen Alte-Musik-Ensemble an der Universität, wo wir Krummhörner, Schalmeien und Blockflöten spielten – und dort hing ein Zink im Instrumentenschrank, der allerdings von niemandem gespielt wurde.

Ein richtiger Zink?
Ja, ein richtiger Zink – oder genau genommen: Es war ein Moeck-Cornettino, also kein wirklicher Zink, aber es ging immerhin so in die Richtung! Ja, und der hatte ein elfenbeinernes Mundstück, wie ich mich erinnere – weil es dann einmal mitten in einem Konzert zerbrach... – und meine Ensemblekollegen sagten mir: Das ist dein Instrument, das musst du probieren! Ich zögerte ein wenig, denn auch mein Trompetenlehrer war nicht allzu begeistert von der Idee. Und natürlich sah auch das Mundstück beängstigend klein aus. Doch irgendwann versuchte ich es dann doch und spielte ein paar Konzerte darauf.

Und Sie konnten das Instrument sofort spielen?
Naja, aus heutiger Sicht würde ich nicht sagen, dass ich es wirklich gespielt habe, ich hoffe, eventuelle Aufnahmen von damals sind zerstört...! Denn ich habe eigentlich erst, als ich dann nach Basel ging, um Blockflöte zu studieren, einen richtigen Zink bekommen und angefangen, ernsthaft zu spielen – und dann übrigens sehr schnell beschlossen, dass das mein Instrument sei.

Es gibt doch da eine nette Geschichte, wie der Wechsel von der Blockflöte zum Zink zustande kam...?
Ja, das ist so. Also, in meinem ersten Semester, ich glaube, es war im Dezember, spielte ich in dem Haus, in dem ich wohnte, Fußball. Unter anderem mit Ben Bagby, und dann noch mit einigen Theologie-Studenten, die auch dort logierten. Ja, und dabei fiel ich hin, und brach mein Handgelenk. Das wurde dann natürlich für ein, zwei Monate eingegipst und ich war erst einmal ziemlich verzweifelt: Ich hatte extra Geld gespart, um nach Basel gehen und studieren zu können, und nun konnte ich wegen dem Gips die unteren Löcher auf der Blockflöte nicht erreichen und damit auch nicht sinnvoll üben. Ein paar Tage später saß ich dann in meinem Zimmer und sah den Zink an der Wand hängen. Da dachte ich: Hm, da ist kein unteres Loch für den kleinen Finger, das Instrument ist auch noch gebogen – das müsste doch funktionieren!
Ich setzte mich also hin, stützte den Gips auf einem Tisch ab, die Unterkante des Instrumentes auf meinem Knie, und siehe da: Es klappte. Ich konnte gerade die Löcher abdecken und spielen. Nicht besonders gut, aber immerhin. Und so spielte ich dann in dieser Zeit, nicht unglaublich intensiv, aber doch regelmäßig Zink. Da passierte noch nicht viel. Aber als dann der Gips abgenommen wurde, fühlte sich die Sache plötzlich so gut an, lag das Instrument so natürlich in meinen Händen, dass ich ganz begeistert war. Darauf folgte dann eine ganze Zeit, wo ich quasi jeden Tag ganz erstaunliche Fortschritte machte, eigentlich jeden Tag etwas spielen konnte, was am Tag vorher noch nicht gegangen war. Das war eine ganz besondere Zeit, und ich habe niemals davor oder danach noch einmal so etwas erlebt!
Ja, und so wurde ich innerhalb eines Jahres ein Zink-Student. Obwohl – im Grunde wurde ich der Zink-Lehrer! Dann traf ich an der Schola Cantorum Jordi Savall und er bat mich, ein Bläserensemble für Hesperion XX zusammenzustellen; und so nahmen die Dinge ihren Lauf.
In diesem Zusammenhang muss ich aber auch noch eine andere Geschichte aus dieser Zeit – oder genau genommen aus der Zeit kurz vorher – erzählen: Damals, in den Anfangsjahren des Festivals von Saintes, als es dort vor allem Alte-Musik-Kurse gab, wurde ich gefragt, ob ich dort einen Blockflötenkurs geben könne. Ich fuhr also nach Saintes, wo die Abtei damals noch unrestauriert war, es noch keine Türen gab, wir teils in Zelten schliefen und alles einfach sehr improvisiert war. Naja, ich stand also eines schönen Tages während der Mittagspause in einem Raum im Konvent und übte auf meinem Zink. Da klopfte es plötzlich an der Türe, und als ich aufmachte, stand da ein Typ, schaute mich groß an, und fragte: Wer bist du? - Und ich sagte: Ich bin Bruce Dickey. Und wer bist du? - Und er antwortete: Ich bin Jean-Pierre Canihac, ich bin hier der Zink-Lehrer. Und du spielst genauso gut, wie ich. - So wurden wir Freunde und begannen, täglich miteinander zu spielen – und als ich dann für Hesperion XX einen zweiten Zinkenisten brauchte, rief ich Jean-Pierre an. Wir haben da sehr lange miteinander gespielt, sicher über zehn Jahre.

Und wo hatte er Zinkenspielen gelernt?
Oh, ich glaube da waren damals mehrere Leute, die das für sich selbst gelernt hatten: Eben Jean-Pierre, der auch ein Trompeter war, und Jeremy West in England, der das wieder auf seine Art machte, und auch noch ein paar andere.

Hat Jeremy West nicht von Christopher Monk gelernt?
Nein, das glaube ich nicht. Christopher Monk war eigentlich nie wirklich ein Zinkenist. Ich meine, vielleicht hat Jeremy Instrumente von ihm gehabt und hat auch ein bisschen was von ihm mitbekommen, so wie ich von Edward Tarr, bei dem ich ein Jahr Unterricht hatte. Aber er spielte Zink auch als Trompeter, und als er sah, dass ich da anders heranging, ließ er mich machen. Ich finde auch manchmal, dass das heute ein bisschen fehlt, dass jeder, der Zink lernt, seinen eigenen Weg findet.

Ist es nicht auch ein Stück weit so, dass der Zink einem schon sagt, wie man ihn richtig spielt? Denn sonst kommt einfach kein vernünftiger Ton raus...
Ja, schon, aber nur bis zu einem gewissen Grade. Ich bin ja nun der Zinkenist in Basel an der Schola, und bin immer wieder erstaunt, wie viele verschiedene Arten von Klang es da gibt. Man sollte ja annehmen, dass die Leute, die zu mir zum Studieren kommen, mit einer gewissen Affinität dafür kommen, was ich tue – aber es sind dann doch unglaublich viele verschiedene Klangfarben, die da rauskommen. Wenn man sich zum Vergleich eine Klasse von modernen Trompetern anhört, dann gibt es da natürlich bessere oder schlechtere – aber der Klang ist doch bei allen ziemlich ähnlich. Und beim Zink ist das viel, viel weniger der Fall.
Was ich auch interessant finde: Ich habe Konzerte sowohl mit Jean-Pierre Canihac, als auch mit Jeremy West gespielt, und beide spielen ganz anders als ich. Aber ich stellte fest, dass das trotzdem sehr gut funktioniert. Man muss also nicht gleich spielen, damit das gut zusammenpasst!

In welcher Weise spielen sie anders? Was den Klang betrifft, oder die Herangehensweise an die Musik, oder die Technik?
Nun, das fängt mit anderem Material an – andere Mundstücke, andere Instrumente, und damit auch ein anderer Klang –, ein anderes Klangkonzept, eine andere Vorstellung von Artikulation, eine andere Interpretation der gleichen Information. Und die Vorstellung im eigenen Kopf, was man mit dem Klang, mit der Musik macht, ist beim Zink viel wichtiger, als die Ausrüstung: Wenn ich meinen Zink und mein Mundstück nacheinander allen meinen Studenten geben würde und sie ein Stück darauf spielen ließe, könnte ich doch jeden sofort identifizieren. Und wenn ich auf Doron Sherwins Mundstück spiele und er auf meinem – klinge ich trotzdem so wie ich und er so wie er.

Sie haben 1987, zusammen mit Charles Toet, Concerto Palatino gegründet...
Ja, das ist das Datum, auf das wir uns geeinigt haben.

Das heißt...?
Naja, das mit dem Datum ist ein bisschen eine künstliche Konstruktion. Ich meine, ich habe mit Charles Toet in diversen Formationen gespielt: Wir hatten ein Ensemble, das ‚Concerto Castello’ hieß, mit dem wir in den frühen 80er Jahren auch einige Aufnahmen gemacht haben. Und dann ging diese Gruppe auseinander und wir haben überlegt, unter welchem Namen wir zukünftig auftreten sollen. So hatten wir Konzerte als ‚Le Nuove Musiche’, als ‚Complesso Bruce Dickey’, und so weiter, und 1987 war der Zeitpunkt, wo wir zum ersten Mal als ‚Concerto Palatino’ konzertierten. Das war noch nicht das Ensemble, wie es heute besteht: Damals war das ein Zink – oder vielleicht manchmal zwei -, eine Posaune, eine Gambe – Paolo Pandolfo -, ein Sänger... Wir gingen allerdings ziemlich bald zur heutigen Besetzung von ausschließlich Zinken und Posaunen über; und diese Besetzung ist zwar durchaus flexibel, aber doch die Grundidee von Concerto Palatino.

Concerto Palatino in nuce besteht also heute aus zwei Zinkenisten und drei Posaunisten?
Ja, das ist der harte Kern der Gruppe. Aber das ist eben nicht unveränderlich: Wir haben auch schon Konzerte mit einem Zink und einer Posaune gemacht; das wechselt durchaus. Aber normalerweise treten wir nur unter dem Namen Concerto Palatino auf, wenn Charles und ich beteiligt sind. So haben wir also, bis auf wenige Ausnahmen, mindestens eine Posaune und einen Zink, und meistens sind es drei Posaunen, zwei Zinken.

Was macht nun in Ihren Augen, mal abgesehen von der Besetzung, Concerto Palatino aus – vom Klang her, vom Repertoire?
Vom Repertoire her ist es so, dass wir versuchen, so viel wie möglich von der Literatur für unsere Besetzung zu spielen, und zwar in so vielen Kontexten wie möglich. Was den Klang betrifft, versuchen wir unser Konzept darüber zu verwirklichen, was unsere Instrumente zu ihrer Blütezeit ausmachte. Das heißt vor allem, dass wir vokal an die Sache herangehen, und diese Gruppe von Zinken und Posaunen nicht als ein Blechbläserensemble ansehen, sondern eher als eine Bläserformation mit einer vokalen Idee – nicht so sehr in dem Sinne eines lyrischen, vokalen Legato, eher im Gegenteil: In sehr sprechender Qualität. Und der größte Genuss ist es für uns, dieses klangliche Ideal zusammen mit Sängern und anderen Instrumenten zu verwirklichen. Wobei es nicht immer leicht ist, die richtige Balance zu finden, in der die Instrumente die Stimmen nicht überdecken, sie aber auch nicht nur begleiten, sondern mit ihnen in einem Dialog stehen. Das ist das Ziel, und das ist das, was uns am meisten Spaß macht.

Man sagt ja, der Zink sei das Instrument, das der menschlichen Stimme im Klang am nächsten komme – arbeiten Sie deshalb am liebsten mit Stimmen? Und warum eigentlich auch mit anderen Instrumentenfamilien, zum Beispiel Streichinstrumenten? Das ist doch wieder eine ganz andere Art von Klang.
Die Geige war immer ein wichtiger Partner des Zinken. Während dieser Epoche vom frühen 16. Jahrhundert bis durch das 17. Jahrhundert gab es einige Instrumente, die immer mit dem Zink dialogisierten: Sei es eine Violine und ein Zink, oder jeweils zwei. Und es ist so, dass eben zwei Zinken und drei Posaunen kein Blechbläserensemble sind. Die Posaunen können ebenso gut mit zwei Violinen spielen und klingen. Ein Zink soll ja klanglich auch nicht einer Posaune entsprechen. Ich höre immer wieder, dass ein Zink klingen soll, wie eine Sopran-Posaune – aber ich glaube, das ist falsch. Der Zink hat viel mehr von der Violine, denn der Glanz, die Helligkeit und Strahlkraft seines Tons macht ihn nicht nur mit der Posaune vergleichbar, sondern eben auch mit der Geige. So können sie gleichberechtigte Partner sein. Und dann gibt es natürlich noch einen anderen, ganz einfachen Grund dafür, warum wir mit Gamben und Violinen zusammenspielen: Weil die Musik für diese Instrumente geschrieben ist.
Was die Balance zwischen instrumentaler und vokaler Musik betrifft, denke ich, dass im 17. Jahrhundert rein instrumentale Literatur eigentlich nur im Kontext vokaler Stücke Sinn macht. Das heißt, eine Sonata oder Canzona zwischen einigen Motetten ergibt einen wunderbaren Effekt. Ein ganzes Konzert aus Sonaten und Canzonen – was wir durchaus manchmal machen, wenn es gewünscht wird – ist nicht annähernd so befriedigend. Oder, wie es eine Quelle aus dem 17. Jahrhundert beschreibt: Ein Konzert ohne Gesang ist ein ‚concerto muto’, ein stummes Konzert. Das Wort, der Text, ist der Schlüssel zur Musik.

Warum hört man den Zink so selten als Soloinstrument?
Meiner Meinung nach ist das so, weil der Zink niemals wirklich ein Soloinstrument war. Man kann nicht sagen, dass der Zink nie solistisch spielte, aber es gibt einfach sehr wenig Repertoire für Zink solo oder mit Continuo.

Aber es war doch seinerzeit oft gar nicht so festgelegt, für welches Instrument eine Solo-Sonate nun dezidiert bestimmt war.
Nun, wenn man sich Sammlungen von Instrumentalmusik aus der höchsten Blütezeit des Zink, den ersten drei Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts, so anschaut, dann sieht man, dass es darin normalerweise ein oder zwei Solostücke gibt – und der Rest ist für Ensemble. Und sehr oft sind diese ein oder zwei Stücke dann eben viel geeigneter für die Geige, als für den Zink. Wenn man sich zum Beispiel Castello anschaut: Da ist sehr viel Repertoire drin, das sich auf dem Zink wunderbar spielen lässt – aber die ein, zwei Solostücke sind einfach ganz deutlich für die Geige geschrieben. Die Ensemblesachen sind wunderbar auf dem Zink zu spielen – die ein, zwei Solostücke spielen sich auf der Geige ganz hervorragend, sind aber auf dem Zink nicht besonders angenehm. Und ganz ähnlich ist es auch in anderen Sammlungen.
Wenn ich ein Solorecital auf dem Zink spielen soll, dann tue ich mir wirklich schwer, genügend Literatur mit Continuo-Begleitung zu finden, die ich spielen möchte. Ich kann wählen zwischen den vier Sonaten von Fontana, oder den Solo-Canzonetten von Frescobaldi - die ich übrigens nicht unbedingt für die besten Stücke aus der Frescobaldi-Sammlung halte. Also spiele ich Diminutionen, was viel angenehmer ist auf dem Zink. Und ich finde einfach, der Zink klingt am besten, wenn er nicht mit Continuo spielt, sondern als höchste Stimme über einem vier-, fünf-, sechsstimmigen Satz, wie einer Motette, einem Chanson, oder einem Madrigal – entweder mit Diminutionen, oder einfach diese Partie spielend. Das fühlt sich für mich viel besser an und gibt mir auch den Eindruck, dass das Instrument zufriedener ist.

Aber man kann sich das kaum vorstellen, dass man seinerzeit den Zink als Soloinstrument so wenig einsetzte, denn das ist doch ein so reizvoller, weicher Klang – das muss die Menschen doch zu jeder Zeit fasziniert haben!
Naja, ich spiele schon häufiger Solorecitals, meist mit historischen Orgeln. Das mache ich sehr gern, finde es gleichzeitig auch sehr stimulierend und informativ – wenn man einfach hört, wie die Orgel mit der Akustik arbeitet und man sich selbst da einzupassen versuchen muss, damit es zusammengeht. Und dann ist der Klang einer originalen, oder auch gut restaurierten Orgel natürlich auch etwas ganz Wunderbares, etwas Authentisches auch, was mich sehr fasziniert. Wenn ich mit einer italienischen Orgel aus dem 16. Jahrhundert spielen kann, so ist das auch eine wertvolle Informationsquelle für mich: Wie laut muss ich spielen, um mit den Prinzipalen zu harmonieren, und wie hell muss mein Klang sein, und wie deutlich muss ich artikulieren? Das ist alles sehr instruierend. Natürlich kann ich eine Solo-Sonate mit Cembalo und Viola da Gamba spielen und das klingt sehr schön, aber dabei habe ich nicht so sehr das Gefühl, etwas über mein Instrument und seinen Klang zu lernen, da mache ich dann bloß schönen Klang für das Publikum.
Ich denke, das ist auch etwas, was heute in der Alten Musik ein bisschen fehlt: Diese Neugier, dieser Forscherdrang, den die Leute in meiner Generation noch hatten: Wie hat es damals geklungen, wie haben die es damals gemacht? Ich würde alles darum geben, nur einmal für zehn Minuten in San Marco in Venedig im Jahr 1610 zu stehen, und zu hören, wie sie musiziert haben! Wahrscheinlich wäre ich total schockiert!
Aber das ist in gewisser Weise meine Hauptmotivation für das Musizieren, diesem Klang, dieser Musizierkunst nachzuspüren. Und ich habe oft das Gefühl, dass die Musiker heute ihre Motivation eher aus der Frage ziehen, was sie in diesem Konzert wohl noch tun könnten, um einen möglichst guten Effekt beim Publikum zu erzielen. Dieser Aspekt kommt natürlich auch bei mir immer ein Stück weit dazu – aber das andere ist einfach wichtiger.

Aber man könnte doch trotzdem – selbst wenn man wüsste, wie es 1610 in Venedig geklungen hat – nicht daraus schließen, wie es in Dresden oder Wien oder Paris war...
Nein, sicherlich nicht. Aber ich bin doch sehr sicher, dass wir, wenn wir den Klang aus Venedig kennen würden, zumindest ein ganzes Stück näher an dem von Dresden oder Wien oder Paris wären, als mit unserem heutigen Klang! Das meine ich, wenn ich sage, wenn ich Venedig 1610 heute hören könnte, wäre ich wahrscheinlich schockiert: Einige Dinge dürften damals so anders gewesen sein, dass uns gemeinschaftlich die Kinnladen herunterfallen würden, und bei anderen Dingen würden wir vermutlich sagen: Naja.
Sachen, wie Stimmung oder Improvisation – ich glaube da wären wir einfach gänzlich erstaunt. Aber zum Beispiel ihr Ensemblespiel damals, würden wir – nun ja..., sagen wir: nicht gut - finden. Denn wir sind so konditioniert von den Aufnahmen heutzutage und von Konzertsälen mit sehr analytischer Akustik, dass es für uns unglaublich wichtig ist, exakt zusammen zu spielen. Und ich meine, dass die Musiker damals in vielen Dingen, wie eben Intonation, Stimmung, Improvisation, Diminution viel besser waren, als wir heute; aber sie hatten nicht besonders viel Zeit, zu proben. Sie spielten jeden Tag in der Kirche. Deshalb haben sie wahrscheinlich, ähnlich wie ein gutes Jazz-Ensemble, einfach gut miteinander gespielt – aber nicht zwangsläufig besonders genau.

Das ergab sich ja, wenn wir an San Marco denken, unter Umständen schon aus Aufstellungen auf drei verschiedenen Emporen, die jeweils 40 Meter voneinander entfernt waren, oder?
Ja, natürlich! Das kam noch dazu! Nein, ich denke, sie haben schon sehr, sehr gut gespielt, aber sie hatten einfach andere Kriterien als wir. Oder wenn ich an die Tempi denke: Wir wären total erstaunt, wie sie die Proportionen verstanden haben, glaube ich. Und vielleicht war auch der Klang ganz anders, vielleicht fänden wir ihn fürchterlich luftig. Denn die Mundstücke, die aus der damaligen Zeit überlebt haben, scheinen uns heute unspielbar zu sein.

Warum?
Da sind einige erhalten, die extrem flach sind und eine sehr scharfe Kante haben, und für uns einfach nicht sehr schön klingen – nach unserem Klangkonzept. Damals hatten sie eben möglicherweise ein ganz anderes. Der Zink sollte ja etwa auch mit Stimmen zusammenklingen, und wir wissen ebenfalls nicht, wie die Sänger damals geklungen haben. Aber das sind Fragen, die mich sehr interessieren.

Was sagen Sie Ihren Studenten heute – gerade auch angesichts dieses Aspektes der fehlenden Neugierde – wenn Sie Ihnen erklären möchten, worauf es in der Alten Musik heute ankommt, die ja nun schon lange keine Pionier- oder Außenseiterbewegung mehr ist?
Das ist eine schwierige Frage, denn in einer gewissen Weise bin ich nicht schrecklich optimistisch für die Zukunft der Zinkenisten. Denn Zink ist ein Instrument, das ein bisschen ab vom Mainstream liegt. Die Alte-Musik-Bewegung begann, denke ich, mit der Renaissance-Musik und ging dann in beide Richtungen weiter: Also in’s Mittelalter auf der einen Seite, in den Barock, die Klassik, dann die Romantik und inzwischen ja sogar bis in’s 20. Jahrhundert auf der anderen Seite – Stravinsky auf Original-Instrumenten und so. Ich finde, das ist alles sehr interessant – aber diese Entwicklung hinterließ das 16. Jahrhundert doch so ein bisschen verwaist, nur von einigen Vokalensembles beackert. Denn 16. Jahrhundert ist einfach zu teuer: Wenn man die Musik aufführen will, wie es damals an großen Höfen oder Hauptkirchen und Kathedralen gemacht hat, dann braucht man dafür ziemlich viele Leute, und solche Besetzungen scheint man heute finanziell kaum noch für machbar zu halten. Wenn man nicht gerade Mozart oder Beethoven spielt, wofür man natürlich auch viele Leute braucht.... Und da ist auch eine Bewegung weg vom 17. Jahrhundert, denn es wird immer schwieriger auf den Festivals und unter den Veranstaltern oder Plattenlabels Leute zu finden, die bereit sind, einen unbekannten Komponisten zu riskieren. Aber fast alle Musik für Zink ist von unbekannten Komponisten – vielleicht abgesehen von Monteverdis Marienvesper!
Das ist schon ein Problem, ich weiß nicht, wie das weitergeht. Was ich meinen Studenten sage, ist, dass sie in ihrer Professionalität absolut solide sein müssen, perfekt in der Intonation... Zink ist kein exotisches Instrument mehr.
Als ich anfing zu spielen, war es so, dass die Leute, wenn ich es schaffte, eine Phrase halbwegs sauber hinzukriegen, begeistert sagten: Oh wow, das ist wirklich großartig! Aber das zieht heute nicht mehr; man muss wirklich sehr gut sein. Ja, ich weiß nicht, wie das wird. Auch was mich selbst betrifft.

Was machen die Zinkenisten, die heute gerade so in’s Berufsleben einsteigen?
Natürlich gibt es viele, die da ihre Nischen finden: Es gibt eine starke Tendenz in alle möglichen Arten von Cross-Over, eine andere Tradition. Ich meine, ich finde das auch manchmal sehr spaßig zu machen, aber ich denke nicht, dass das eine Richtung mit sonderlich viel Zukunft ist. Für mich ist das eher ein Zeichen, dass man die Motivation, die Überzeugung aufgibt, dass diese Musik unglaublich spannend und faszinierend zu hören wäre, wenn sie so gespielt würde, wie die Leute, die sie geschaffen haben, es beabsichtigten – also den Kerngedanken der ganzen Alten Musik. Wenn man das nicht wirklich glaubt, wenn man sagt: Also, es klingt doch eigentlich ganz nett mit einem afrikanischen Percussion-Element oder was auch immer... – ja, das klingt vielleicht wirklich mal ganz nett, aber deshalb muss man doch nicht den Kern der Alten Musik aufgeben, um diese Richtung zu verfolgen! Ich sehe darin nur einen Weg des leichten Erfolgs beim Publikum, der sich aus dieser Art der Annäherung an die Musik ergibt.

In gewisser Weise gibt man damit ja eigentlich sein Publikum auf, nicht? Man hält es für zu platt oder zu unintelligent oder was immer, um den ganzen Ernst der Sache verkraften zu können.
Ja, genau. Denn wenn ein Publikum eben von der Musik nicht so überzeugt ist, wie man selbst, dann ist es eigentlich auch die eigene Aufgabe, es doch noch davon zu überzeugen. Und wenn man aufgibt und versucht, es mit etwas leichter Verdaulichem zu verführen, dann verrät man alles, was wir in der Alten Musik gesucht haben - und was Einige von uns ja immer noch suchen.
Was mich immer noch mehr interessieren würde als diese Art von Cross-Over, wären Werke zeitgenössischer Komponisten, die für historische Instrumente schreiben. Aber dann mit einem fundierten Wissen um die Möglichkeiten und Qualitäten dieser Instrumente! Im Laufe der Jahre wurden mir da eine ganze Reihe von Projekten angeboten und einige habe ich auch gemacht. Aber was da gewöhnlich fehlt, ist eben das Bewusstsein für das Instrument. Die Komponisten neigen dazu, die historischen Instrumente einfach als klanggebenden Apparat zu betrachten, und nicht als kulturelle Artefakte mit einer eigenen Geschichte und einem eigenen Repertoire. Und ich finde, die Sache wird nur interessant, wenn man dieses Element in eine Komposition integrieren kann. Wenn das vorhanden wäre – das würde ich wirklich gerne ausprobieren!

Und wie sieht es mit den Möglichkeiten der weiteren Erforschung des Repertoires aus? Ist das noch eine viel versprechende Möglichkeit für Zinkenisten?
Es gibt natürlich eine riesige Menge von noch nicht erforschtem Repertoire – eine erstaunliche Menge! Wenn ich daran denke, was wir mit Concerto Palatino allein in den letzten drei Jahren alles wieder ausgraben und aufführen konnten, das ist schon sehr viel. Und ich würde auch liebend gerne damit weitermachen, und mich freuen, wenn die nächste Generation das gleichfalls in Angriff nehmen und diese Musik wieder zum Klingen bringen würde; viel mehr, als darüber, dass sie immer wieder die gleichen bekannten Sachen spielen – viele Meisterwerke natürlich mit einigem Recht, kein Zweifel. Aber trotzdem: Ich denke, dass es doch auch wichtig ist, die Marienvesper von Monteverdi im Kontext anderer Musik dieser Zeit zu betrachten, Buxtehude im Kontext anderer Komponisten seiner Epoche. Das vergrößert nur noch unseren Genuss bei Monteverdi und Buxtehude, aber außerdem wird man dabei sicherlich auch zwangsläufig über andere Meisterwerke dieser Zeit stolpern. Nicht unbedingt ständig – aber muss denn jedes Konzert Musik mindestens auf dem Niveau der Marienvesper enthalten, damit es interessant ist?

Ich denke, dass die Hörer bei neu ausgegrabener Musik auch eher vom Klang der Musizierenden angesprochen werden, als von einem Werk selbst. Denn beim ersten Hören kann doch nicht Jeder für sich das Gehörte gleich aufnehmen und strukturieren.
Ja, das ist so. Man muss erst die Klangsprache der Komposition, auch eines Stils oder einer Epoche lernen, um die Musik verstehen zu können. Aber das Problem dabei ist: Wenn man immer wieder das gleiche Stück, oder die gleichen paar Stücke hört, dann lernt man eben nicht die Klangsprache der Zeit, sondern die Effekte dieses Stücks. Als Beispiel: Wenn man das Duo Seraphim aus der Marienvesper mit all den Trillern und Verzierungen und Effekten hört, dann hält man das schnell für etwas ganz Typisches speziell für Monteverdi und nimmt es in einer anderen Art und Weise wahr, als wenn man sich dessen bewusst wäre, dass das damals absolute Standard-Verzierungseffekte waren, die man auch ständig in anderen Stücken hörte. Das sagt nichts über den Genius von Monteverdi aus – es war einfach die gängige Sprache der Zeit derer er sich da bediente, und es sind in Wirklichkeit ganz andere Dinge, die ihn so besonders machen. Aber ich glaube, die Leute realisieren sich das oft genug einfach nicht, wenn sie keine andere Musik dieser Zeit kennen, und missverstehen ihn damit auch in gewisser Weise. Und das ist doch sehr schade – für ihn und für sie!


Erschienen Juli 2009 in Toccata - Alte Musik Aktuell.


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